Unsere Pauluskirche

Die Geschichte unserer Glocken

Das Glockengeläut der Pauluskirche Sehma, wie selbstverständlich hört man tagtäglich seinen Klang vom Kirchturm herunter. Doch seine Glocken hingen nicht immer da oben...

Verlust der Glocken

In den letzten Kriegsjahren des 2. Weltkrieges wurden dem Militärregime die Rohstoffe knapp. Man begann im ganzen Lande die Kirchtürme zu leeren und die abgehängten Glocken zu Kriegsmaterial umzuarbeiten. Auch das wundervoll klingende Des-Dur-Bronzegeläut unserer Pauluskirche sollte davon nicht verschont bleiben. Am eiskalten 15. Januar 1942 wurde es dann zur bitteren Wirklichkeit. Zwei Tage zuvor sahen die Sehmaer mit Wehmut und bei minus 22 Grad Celsius den Pferdeschlitten mit den Cranzahler Glocken durch das Dorf Richtung Annaberg fahren. Jetzt wurden ihre mittlere und große Glocke vom Turm geholt und auf dem Pferdeschlitten der Firma Martin Burkert nach Annaberg zum Bahnhof gebracht. Die kleine Glocke verblieb auf dem Turme und sollte von nun an ihren Dienst alleine tun. Dieser kleinen Glocke war das Schicksal ihrer Schwestern wohl bekannt, wurde sie doch im ersten Weltkrieg ebenfalls abgenommen und wegtransportiert. Zum Glück konnte sie aber nach Kriegsende wieder wohlbehalten nach Sehma zurückgeholt und auf den Turm gehängt werden. Dieses Glück war unserer Kirchgemeinde nach dem Ende des 2. Weltkrieges nicht vergönnt: die Glocken waren im Kriegsmateriallager in Hamburg nicht mehr auffindbar und man musste sich für die nächsten Jahre mit der kleinen Glocke begnügen.

Doch je länger dieser Zustand anhielt, desto größer wurde der Wunsch der Gemeinde, wieder ein vollständiges, dem alten ebenbürtiges Geläut zu besitzen. Die Kirchgemeinde nahm mit der Glockengießereifirma Franz Schilling & Söhne in Apolda Kontakt auf und nach einem entmutigenden Kostenvoranschlag seitens der Firma kam man zu dem Schluss, dass dieses Projekt wohl nicht in absehbarer Zeit in Angriff genommen werden konnte. Dennoch blieb man nicht untätig und besorgte sich zwei Glocken (eine aus Oberwiesenthal, eine aus Trunzig), die ursprünglich als Gußmaterial für das neue Geläut dienen sollten. Mit der Einweisung des neuen Pfarrers Helmut Scholz am 12. März 1950 kam frischer Wind in das Glockenprojekt. Pfarrer Scholz erkannte den sehnlichsten Wunsch seiner Gemeindeglieder und machte ihn zu seinem eigenen. Er verhandelte ein halbes Jahr mit der Glockengießereifirma und konnte am 17. Oktober 1950 die Herstellung des Bronzegeläutes von 3 Glocken in des-f-as am Firmensitz in Apolda in Auftrag geben. Die Glocken sollten möglichst bis Weihnachten im Turme hängen. Der Preis, den Pfarrer Scholz ausgehandelt hatte, war zwar nur ein Bruchteil des ursprünglichen Kostenvoranschlages, aber für diese Notzeit immer noch eine ansehnliche Menge Geld. Doch die Sehmaer zeigten eine ungeahnte Spendenbereitschaft. Innerhalb kürzester Zeit konnte die Summe durch Spenden bereitgestellt werden. Die Gemeindeglieder und auch Bürger, die nicht der Kirche angehörten, haben damit bewiesen, dass ihnen der Glockenklang wirklich am Herzen lag. Am 29. November 1950 waren Pfarrer Scholz und ein Mitglied des Kirchenvorstandes mit einem Lastkraftwagen der Firma Martin Burkert in Apolda um 2 Glocken und die Joche des alten Geläutes der Glockengießerei zu übergeben. Eine dieser beiden Glocken war die verbliebene kleine Glocke des ursprünglichen Geläutes, die am Tage zuvor vom Turm geholt worden war. Diese kleine Glocke sollte zur Herstellung unserer Glocken mit eingeschmolzen werden und ist damit immer noch Bestandteil unseres Geläutes. Die zweite Glocke war die aus Oberwiesenthal. Die kleine Glocke aus Trunzig sollte nun bis zur Weihe des neuen Geläutes ihren Dienst tun. Am 2. Dezember 1950 wurden die neuen Glocken in Apolda gegossen.

Der Transport nach Sehma war für den 14. Dezember 1950 geplant. Bis dahin galt es noch den Transport zu organisieren, was sich als sehr schwierig erwies. An diesem Punkte hat der damalige Inhaber der Firma Martin Burkert, Arno Burkert weder Mühe noch Wege gescheut, um am Transporttage einen geeigneten LKW zur Verfügung zu stellen, immerhin betrug die Last über 3 Tonnen. Doch nicht nur die Bereitstellung des Lastkraftwagens musste von Arno Burkert organisiert werden, sondern auch die Erlaubnis für diese Fernfahrt. Damals waren Leerfahrten über diese Distanzen für LKW verboten und so musste eine Ladung für diesen Tag nach Apolda herangeschafft werden. Nachdem viele Anfragen an die hiesigen Betriebe für eine solche Ladung scheiterten, gelang es ihm dennoch für diese Fahrt eine Ladung Beleuchtungskörper von einem Cranzahler Betrieb nach Apolda zu arrangieren. Überhaupt ist hier das Engagement von Arno Burkert besonders zu würdigen. Er und seine Familie haben alles ihnen Mögliche in Bewegung gesetzt, um die Kirchgemeinde bei ihrem Glockenprojekt zu unterstützen. In der Nacht zum Donnerstag, den 14. Dezember 1950 brachen sie nun auf, der damals noch junge Herbert Burkert, Sohn des Arno Burkert und sein Cousin Gotthard Burkert, begleitet von Pfarrer Scholz und vielen Segenswünschen der Gemeinde. Damals brauchte man für so eine Strecke zwei Kraftfahrer, denn das LKW-fahren war noch anstrengend. In dieser Zeit waren die Straßen in einem erbärmlichen Zustand und Reifenpannen oder anderes Ungemach war an der Tagesordnung. Aber die Apoldafahrer schafften es: im Morgengrauen standen sie bereits vor den Toren der Glockengießerei und gegen 10 Uhr traten sie mit den drei neu gegossenen Glocken auf der Ladefläche die Heimreise an. Jede dieser Glocken hatte ein respektables Gewicht: die große Des-Glocke wiegt 1717 kg, die mittlere F-Glocke bringt ein Gewicht von 836 kg auf die Waage und selbst die kleine As-Glocke schlägt noch mit 456 kg zu Buche. Ohne Ruhepause fuhren die Fahrer, die sich ab und an abwechselten auf eisglatten Straßen mit der ersehnten Fracht gen Erzgebirge. Durch GOTTES Gnade erlitten sie auch bei der Heimfahrt keinerlei Pannen. Selbst die russischen Kontrollposten, die sie hier und da passieren mussten, ließen sie trotz der ungewöhnlichen Fuhre ungehindert durchfahren.

So kamen unsere Glocken wohlbehalten gegen 14:00 Uhr am Ortseingang an, wo Arno Burkert mit seinem kleinen Lastkraftwagen die Gattin des Pfarrers und eine Gruppe junger Mädchen mit Girlanden und Blumen hingebracht hatte. Dort hatten sich schon viele Leute eingefunden, darunter auch der Bürgermeister Richard Horn. Liebevoll wurden der LKW und seine Ladung geschmückt und dann setzte sich das Glocken-Auto in langsamer Fahrt, eskortiert von Kindern aller Altersstufen, Richtung Kirche in Bewegung.

Glocken 1950 01

Glocken 1950 03

An den Straßen standen unzählige Leute Spalier und begrüßten die neuen Glocken mit Zurufen und Blumen. So kamen die lang ersehnten Glocken nun endlich an unserer Pauluskirche an. Dort wurden sie mit festlichen Lobes- und Dankesliedern der Kantorei und Ansprachen vom Pfarrer und vom Bürgermeister begrüßt. Das ganze Dorf war auf den Beinen, keiner wollte die Sensation verpassen. All die Menschen, die durch ihre Spende, egal ob es das Scherflein der Witwe oder das Taschengeld des Kindes oder die ansehnliche Spende des erfolgreichen Geschäftsmannes war, Anteil an diesen Glocken hatten, konnten sich an diesem Nachmittage voller Stolz und Freude an den Früchten ihrer Großzügigkeit erfreuen. Nach all den Dankesreden und Lobeshymnen wurden die Glocken vom LKW auf ein eigens dafür errichtetes Podest, welches sich an den Treppenstufen des Eingangs der Pauluskirche befand, umgeladen, wo sie auf ihren, für den nächsten Tag geplanten Aufstieg auf den Turm warten sollten. Dabei hätte es fast zur Katastrophe kommen können, als beim Umladen eine Kette riss und die große Glocke wieder zurück auf die Ladefläche des LKW fiel. Zum Glück war sie zu diesem Zeitpunkt nicht allzu hoch, so dass nichts weiter passierte. Nicht auszumalen, was hätte passieren können, wenn die Glocke auf dem Weg in die Höhe zum Glockenstuhl gewesen wäre! Da standen sie nun, unsere Glocken. Der Kirchenvorstand hatte es geschafft, mit Scheinwerfern die Glocken auch in der bald einsetzenden Finsternis für die Schaulustigen sichtbar zu machen.

Glocken 1950 10

Man begann interessiert die Inschriften und Einritzungen jeder einzelnen Glocke zu untersuchen. Eine genaue Beschreibung, was sich auf den Glocken eingeritzt befindet möchte ich direkt aus den Aufzeichnungen des Schuldirektors i.R. und damals stellvertretenden Vorsitzenden des Kirchenvorstandes, Friedrich Mahn übernehmen, weil man sie nicht besser beschreiben kann.

Zitat: "Die große, die tiefe, die Des-Glocke: Sie hängt in der Mitte des Turmes. An ihrer Nordseite, jedoch nicht am Kranze, der überhaupt bei keiner Glocke beschieben ist, steht der erste Teil des Lobpreises der Engel: "Ehre sei Gott in der Höhe!" Inmitten dieser Worte, die etwas auseinandergezogen stehen, ist die Legendengestalt des Christophorus mit dem Jesuskinde auf den Schultern sichtbar. Aber dieser Christophorus ist nicht als Greis, sondern als ein Mann im gereiften Lebensalter dargestellt. Auf der Südseite der Glocke steht geschrieben:

-Christmettengemeinde Sehma im Erzgebirge-

-gegossen im Advent 1950-

-Franz Schilling Söhne-

-Apolda-

Über diesen Worten ist, etwa 10 cm groß, die Pauluskirche unserer Heimat zu sehen. Links erblicken wir eine Fichte und rechts einen Tannenzweig mit einem Lichte.

Glocken 1950 22

Die mittlere, die F-Glocke: Sie hängt nach Osten zu am Schalloch. An ihrer Nordseite steht der 2. Teil des Engelsgesangs: "Und Friede auf Erden!" Inmitten dieser Worte sehen wir ein Kreuz. Rechts unter diesem Kreuz erblicken wir die Krippe im Stall von Bethlehem mit dem Weihnachsstern. Unter der Krippe sind Dornen und Stacheldraht, woraus eine Rose erblüht, das Hauswappen unseres großen Reformators Dr. Martin Luther. Auf der Südseite dieser Glocke steht wiederum:

-Christmettengemeinde Sehma-

-Advent 1950-

Rechts von diesen Worten sehen wir das Zeichen der Glockengießerfirma.

Glocken 1950 23

Die kleine, die As-Glocke: Sie hängt an der Westseite des Turmes, am Schalloch nach dem Bauverein zu. An ihrer Nordseite ist der 3. Teil des Lobgesanges der Engel eingeritzt: "Und den Menschen ein Wohlgefallen!" Zwischen diesen Worten sehen wir die Krippe, Maria und Joseph, Schaf, Ochs, Esel, eine Menge Volks, anbetende Hirten. Bei der Menge des Volks denken wir uns Krüppel, Blinde, Kranke, erzgebirgische Menschen. Über der Krippe strahlt der Weihnachtsstern. Auf der Südseite der Glocke finden wir wieder die Inschrift:

-Christmettengemeinde Sehma-

-im Advent 1950- "

Glocken 1950 24

Nur langsam verliefen sich die Leute und für die Nacht hatte der Kirchenvorstand eine Glockenwache eingerichtet, für die es viele freiwillige Männer gab.

Am nächsten Tage wurden die Glocken eine nach der anderen von der Hoch- und Tiefbaufirma Flor und Nestler aus Königswalde auf den Turm gezogen.

Glocken 1950 14

Wie nicht anders zu erwarten war, fanden sich auch zu diesem Ereignis jede Menge Schaulustiger ein. Diese durften sogar teilweise mit anpacken, indem sie zum Beispiel die Seile, die die Glocken auf ihrem Weg nach oben von der Mauer des Turmes fernhalten sollten, straff hielten.

Glocken 1950 12

Kurz nach Mittag waren alle drei Glocken im Turm verschwunden und es begann die Montage, die auf Grund von Schwierigkeiten bis in die Nacht zum Sonntag, dem 17. Dezember andauern sollte. Doch alle Probleme wurden rechtzeitig behoben und so stand der Glockenweihe am 3. Adventssonntag 1950 nichts mehr im Wege.

Glocken 1950 17

Der Weihegottesdienst füllte unsere Pauluskirche bis auf den letzten Platz und war erfüllt von festlicher Musik, der Weiherede mit vielen Danksagungen von Pfarrer Helmut Scholz, der Festpredigt von Superintendent Auenmüller aus Annaberg und Ansprachen, Begrüßungen und Beglückwünschungen seitens des Bürgermeisters Horn, Vertretern auswärtiger Kirchgemeinden und hiesiger Religionsgemeinschaften sowie der abschließenden Ansprache vom stellvertretenden Vorsitzenden des Kirchenvorstandes, Schuldiektor i.R. Friedrich Mahn. Im Anschluss an diesen Gottesdienst stimmten unsere neuen Glocken das erste mal ein halbstündiges Festgeläut an, welches sich zwischen 14 und 15 Uhr, sowie zwischen 18 und 19 Uhr wiederholte. Den Abschluss dieses feierlichen 3. Advents bildete das Turmblasen des Posaunenchores. Jetzt hatte Sehma nach vielen Jahren endlich wieder ein vollständiges Geläut, das dem ursprünglichen in nichts nachstand. Selbst der Glockengießereimeister gestand Pfarrer Scholz, dass Sehma das künstlerisch beste Glockengeläut hat, das seit Kriegsende aus seiner Glockengießerei hervorgegangen sei. Doch das alles wäre nie ohne GOTTES Hilfe und Gnade und die aufopferungsvolle Spendenbereitschaft der Sehmaer Bevölkerung, die selbst in dieser Notzeit genug Geld für ihre Glocken aufzubringen vermochte, möglich gewesen. Jetzt steht wieder ein großes Projekt an und wieder geht es um das Glockengläut unserer Pauluskirche. Diesmal muss der marode, weit über 100 Jahre alte Glockenstuhl erneuert werden. Hoffen wir, dass die Sehmaer ihre Pauluskirchgemeinde genauso finanziell unterstützen wie vor 60 Jahren.

 

 

Da der Verfasser dieses Beitrages natürlich noch viel zu jung ist, um bei dem Beschriebenen dabei gewesen zu sein, musste er sich sein Hintergrundwissen aus zeitgenössischen Quellen beschaffen. Das war zum Einen (u.a. Zitat der Beschreibung der Glocken) die schriftlichen Überlieferungen des ehemaligen Schuldirektors und damals zweiten Vorsitzenden des Kirchenvorstandes der Pauluskirchgemeinde, Friedrich Mahn, der sich zu Lebzeiten unter anderem sehr für die geschichtliche Aufarbeitung unseres Ortes und der Nachbarorte engagierte. Zum Anderen nutzte er die (zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrages) lebendigen Erinnerungen von Herbert Burkert (2015 leider verstorben), Seniorchef des hiesigen Busunternehmens Burkert, welches aus dem Fuhrgeschäft seines Vaters, Arno Burkert hervorgegangen ist. Er hat als junger Mann die Apoldafahrten durchgeführt und die Glocken nach Sehma gebracht. Mit seinen Erinnerungen bestätigte er die von Friedrich Mahn aufgeschriebenen Begebenheiten zu dieser Zeit und konnte dem Geschriebenen noch so manches ungeschriebene Detail hinzufügen, wofür ihm der Verfasser sehr dankbar ist.